Heute vor io Jahren. Leipziger MenschenRechtsgruppen 1989 Die Gangart wird schärfer - Blatt 4: 4. und 10. Juni 1999 Am 12. Mai erhält der Sprecher des Arbeitskreises Gerechtigkeit, Rainer Müller, Reiseverbot in die CSSR, wodurch ein Treffen mit der Charta 77 und der Demokratischen Initiative in Prag verhindert worden ist. Am 15. Mai findet kein Friedensgebet in der Nikolaikirche statt. Trotzdem versammeln sich 150 Personen zu einem Demonstrationszug in der Leipziger Innenstadt. Am 17. Mai werden zur Bearbeitung der Operativen Vorgänge gegen Michael Arnold von der Initiativgruppe Leben, gegen die Sprecher des Arbeitskreises Gerechtigkeit, Rainer Müller und Thomas Rudolph, sowie die Sprecherin Kathrin Walther pro Person ein zusätzlicher Mitarbeiter bei der Staatssicherheit eingestellt. Während der 10. Beratung von Vertretern ostdeutscher Bürgerrechtsgruppen im Sonnabendskreis in Leipzig am 20. Mai wird über die Ereignisse während der Kontrolle der Auszählung der Kommunalwahl informiert und beraten, wie mit den auf gedeckten Wahlfälschungen weiter umzugehen ist. Rainer Müller berichtet von der Protestaktion gegen das Atomkraftwerk in Stendal. Außerdem wird die Unterstützung des Protestes der Dresdner gegen den Bau eines Reinstsiliziumwerkes und des Arbeitskreises Gerechtigkeit gegen den Bau eines 4. Atomkraftwerkes in der DDR beraten. Die Gruppenvertreter werden gebeten viele Musikgruppen in ihren Städten für eine Teilnahme am Leipziger Straßenmusikfestival zu gewinnen und sich den 5., 11., und 12. Juni vorzumerken, falls es in Leipzig oder Börln zu längerandauemden Inhaftierungen kommen sollte, mithin die Auslösung einer landesweiten Solidarisierungskampagne notwendig werden sollte. Am 21. Mai lädt der Arbeitskreis Gerechtigkeit die Leipziger Gruppen in das Theologische Seminar zu einer „AuswertungsVeranstaltung“ der Ereignisse vom 1. Mai, den beiden Demonstrationen zur Kommunalwahl und der Auszählungskontrolle der Wahlen sowie zur Vorbereitung der Veranstaltungen am 4., 10. und 11. Juni ein. Am Wochenende des 21/22. Mai steht auf dem Grundstück von Horst Grüger von der Arbeitsgruppe Friedensdienst in der Wochenendsiedlung „Am Dammühlenteich“ eine gut sichtbare Tafel mit dem Text: „Wir haben Angst vor einem möglichen Kernkraftwerk am Schwarzen Kater/" Nach dem Friedensgebet am 22. Mai werden 350 Personen von Sicherheitskräften eingekesselt. 52 Personen werden vorläufig festgenommen. Eine Person kommt in Untersuchungshaft und 7 Personen erhalten Ordnungsstrafen. Am Tag darauf beginnt eine flächendeckende Überwachung von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Arbeitskreises Gerechtigkeit, der Arbeitsgruppe Menschenrechte und der Initiativgruppe Leben wegen des (2.) Pleiße-Pilger-Weges und des Straßenmusikfestivals. Es kommt zu vorläufigen Festnahmen, Vorladungen und Befragungen (u.a. Silke Krasulsky, Rainer Müller, Bernd Oehler, Thomas Rudolph, Kathrin Walther und Michaela Ziegs vom Arbeitskreis Gerechtigkeit). Am 24. Mai versucht Jochen Läßig nochmals eine Genehmigung für ein Straßenmusikfestival bei der Abteilung Kultur des Rates des Bezirkes zu erwirken. Die bisherigen Versuche eine Genehmigung zu erlangen, waren gescheitert. In einer Konzeption für das Straßenmusikfestival schrieb er: „... Um die angenehme Wirkung des Musizierens ohne Anlagen auf Straßen und Plätzen einer Stadt wie Leipzig zu demonstrieren, treffen sich am 10. Juni einige Straßenmusikgruppen zu einem kleinen Musikfestival. An allen geeigneten Punkten der Innenstadt zvird etwa von 10-22 Uhr musiziert, getanzt und Theater gespielt werden. ... Bedingungen für die Teilnahme sollen nicht gestellt werden. Es kommt uns an diesem Tag vor allem auf die Vielfalt des Dargebotenen im Genre und in der Qualifizierung an. Außer für die Genehmigung der Veranstaltung möchten wir auf die Unterstützung durch gesellschaftliche oder staatliche Organisationen verzichten. ... Bisher haben etwa 20 Gruppen zugesagt, wir können aber mit einer größeren Anzahl von Gruppen rechnen, da sich durch Mundpropaganda der Termin im Land verbreitet und eine Anmeldung eben nicht erforderlich ist." Seine bisherigen Bemühungen das Straßenmusikfestival anzumelden, faßte Jochen Läßig in einer Eingabe an den Rat der Stadt Leipzig zusammen, woraufhin es zu dem Gespräch beim Rat des Bezirkes kam, der das Festival aber auch nicht genehmigte. In der Eingabe vom 18. Mai heißt es: „... Das Meldewesen der Deutschen Volkspolizei mit Sitz in der Dimitroffstraße 1 gab mir die Auskunft, daß Anmeldungen für Veranstaltungen auf der Straße nur mit vorheriger Zustimmung des örtlichen Rates entgegengenommen werden. Der Vertreter des örtlichen Rates Leipzig Mitte - Abteilung Kultur - meint, daß er zwar Veranstaltungen genehmigen könne, das aber leider nur dann, wenn eine gesellschaftliche Organisation als Veranstalter auftritt. Nach meiner Kenntnis käme dafür die Kulturdirektion Leipzig in Frage. Nach Vorsprache bei Kollegen Latsch erfuhr ich aber, daß die Kulturdirektion nur eigene Veranstaltungen (Markttage etc.) organisiere und eine Straßenmusik im Zentrum nicht unterstützen könne. Durch weitere Nachforschungen erfuhr ich, daß als Veranstalter auch der Kulturbund Leipzig in Frage käme. Als ich mich an die Kollegin Halbing ... wendete, war diese anfänglich für mein Anliegen aufgeschlossen. Als sie sich weiter wandte, erfuhr sie aber, daß sie als Veranstalter für unsere Straßenmusik eine zu kleine Institution vertrete. Sie verwies mich daraufhin an den Rat der Stadt Leipzig - Abteilung Kultur - an die Kollegin Michel. In der Hoffnung nun endlich an der richtigen Stelle für die Beantragung einer Genehmigung angelangt zu sein, erfuhr ich nun hier wiederum von Frau Michel, daß sie mit der Genehmigung einer solchen Veranstaltung nichts zu tun habe. Ich könnte mich mit meinem Anliegen lediglich an die Deutsche Volkspolizei - Abteilung Meldewesen - wenden. An diesem Punkt begänne der Kreislauf meines Behördenweges von vorn. Ich bitte sie deshalb, die Zuständigkeit in dieser Sache zu klären und mir mitzuteilenan welcher Stelle ich der gesetzlichen Pflicht der Anmeldung einer solchen Veranstaltung nachkommen kann ...." Am 26. Mai fahren Frank Richter von der Arbeitsgruppe Menschenrechte sowie Thomas Rudolph und Kathrin Walther vom Arbeitskreis Gerechtigkeit nach Prag zu einem Treffen mit der Charta 77. Kathrin Walther erhält an der Grenze ein Reiseverbot und muß zurück fahren. In Prag treffen sie sich auch mit Dr. Babette Kohlbach und dem Westberliner Sprecher des Arbeitskreises Gerechtigkeit, Frank Wolfgang Sonntag. Am 28. Mai informiert die Arbeitsgruppe Menschenrechte auf dem Jugendtag in Leipzig-Grünau über die Ziele der Bürgerrechtsgruppen. Nach dem montäglichen Friedensgebet am 29. Mai beginnen Sicherheitskräfte den Nikolaikirchhof sofort zu räumen. 14 Personen werden vorläufig festgenommen und erhalten Ordnungsstrafen. Unter ihnen befindet sich auch der Sprecher des Arbeitskreises Gerechtigkeit, Rainer Müller. In der Dimitroffstraße wird er von vier Sicherheitskräften grundlos zusammengeschlagen. Der Arbeitskreis Gerechtigkeit informiert telephonisch in Ostberlin akkreditierte westliche Journalisten von den Übergriffen. Tuni 1989 In Leipzig findet am 3. Juni der 4. Tag zum Konziliaren Prozeß in der Probsteikirche mit nur noch geringer Beteiligung statt. Zu Beginn sind 62 Erwachsene und 7 Kinder anwesend. Mittags hat sich die Teilnehmerzahl auf ca. 80 Personen erhöht. Die Teilnehmer kommen zum überwiegenden Teil aus den kirchlichen Gesprächskreisen zu Friedens- und Umweltfragen. Bis auf die politisch engagierten Pfarrer Hans-Friedrich Fischer, Klaus Kaden, Rolf-Michael Turek, Walter-Christian Steinbach und Christoph Wonneberger nimmt kaum noch jemand aus den auf direkte gesellschaftliche Veränderungen zielenden Gruppen teil. Ausnahmen büden nur jene, die wie die Sprecher des Arbeitskreises Gerechtigkeit, Bernd Oehler und Thomas Rudolph, sowie der Sprecher der Arbeitsgruppe Menschenrechte, Frank Richter, die Gelegenheit nutzen, um in Impulsreferaten und längeren Statements ihre bürgerrechtlichen Positionen zu Fragen der Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit und der Einforderung von Menschenrechten und einem demokratischen Gesellschaftssystem darzustellen. Die Tage zum konziliaren Prozeß dienten in Leipzig teilweise einem Selbstverständigungsprozeß der Friedens- und Umweltgruppen in Richtung auf bürgerrechtliche Positionen. Sie waren nie auf die Herstellung von Öffentlichkeit oder die Gewinnung gemeinsamer strategisch-taktischer Handlungskonzepte ausgerichtet. Letzteres war schon deshalb nicht möglich, weil die Stadtkirchenleitung, welche die Vorbereitung entscheidend im Hintergrund moderierte, die Vorbereitung für den Bereich innergesellschaftlicher Gerechtigkeit immer wieder mehr oder weniger staatstreuen Kirchengruppen oder gar der Christlichen Friedenskonferenz überließ. In der Nacht zum 4. Juni lassen die chinesischen Kommunisten die Demokratiebewegung mit militärischer Gewalt niederschlagen. In Polen gewinnt Solidamosc die Wai den zum polnischen Senat. 900 Personen versammeln sich zum Gottesdienst in der Leipziger Paul-Gerhard-Kirche. Anschließend versuchen 500 von ihnen als (2.) Pleiße-Pilger-Weg zur Reformierten Kirche in die Innenstadt zu ziehen. 83 Personen werden zugeführt, 19 von ihnen erhalten Ordnungsstrafen. Über ihr Infotelephon in der Lukaskirchgemeinde informieren Arbeitskreis Gerechtigkeit und Arbeitsgruppe Menschenrechte über die Auflösung des Pleiße-Pilger-Weges die in Ostberlin akkreditierten Journalisten. Frank Richter und Kathrin Walther bringen Pressephotos nach Ostberlin. Die Sicherheitskräfte versuchen immer wieder die Teilnahme von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Arbeitskreises Gerechtigkeit und deren Berichterstattung über die Demonstrationen zu verhindern, indem sie versuchen, diese unter Hausarrest zu stellen oder bereits vorher zuzuführen. Manchmal unterlaufen den Sicherheitskräften dabei grobe Fehler, wie zum (2.) Pleiße-Pilger-Weg, wo der Sprecher des Arbeitskreises Gerechtigkeit, Thomas Rudolph, der in der Nähe seiner Wohnung zugeführt worden war, nach einem energischen Protest und einer nur kurzen Befragung sofort wieder entlassen worden war und die Anzahl der vorläufig Festgenommenen dadurch aus erster Hand nach Ostberlin übermitteln kann. Der Sprecher des Arbeitskreises Gerechtigkeit, Bernd Oehler, schildert seine Erlebnisse mit der Staatsmacht zum (2.) Pleiße-Pilger- Weg am 12. Juni in einem Bericht an das sächsische Landeskirchenamt folgendermaßen: „Am Freitag, dem 2. Juni wurde ich 14. 00 Uhr von 2 mir mittlerweile vom Gesicht her bekannten Beamten des MfS zur Klärung eines Sachverhaltes zugeführt. Die in der Dimitroffstraße stattfindende Befragung bezog sich auf Organisation, Durchführung und Teilnahme sowohl am Pleißepilgerweg ... als auch am Straßenmusikfestival... Ich teilte lediglich mit, am 4. Juni eine Andacht in einer Kirche mitzugestalten. ... Nachdem ich eine schriftliche Information, daß der Pleißepilgerweg untersagt sei und eine Teilnahme daran mit Ordnungsstrafrecht und unter Umständen mit dem Strafrecht geahndet würde, zur Kenntnis genommen hatte, war die Befragung ca. 16.30 Uhr beendet. Am 4. Juni verließ ich 13. 00 Uhr meine Wohnung - aus vorstellbaren Gründen über den Hof und eine kleine Mauer - um zur Paul-Gerhard-Kirche zu gelangen. Wenige Minuten später wurde ich von einem Sicherheitsbeamten eingeholt, nach meinem Ausweis gefragt und zur Klärung eines Sachverhaltes aufgefordert mitzukommen. Der Beamte brachte den Sprung über die Mauer mit einem ausgesprochenen Hausarrest in Zusammenhang - irrtümlich, denn ich war diesbezüglich nicht beauflagt worden. Nach einer kurzen Autofahrt und einem Telephonat wurde ich in meine Wohnung zurückgebracht und beschieden, sie bis ... 19. 00 Uhr nicht zu verlassen. Die 3 Beamten blieben bis 17. 30 Uhr durchgängig vor dem Haus. Am 10. Juni erhielt der Gast in meiner Wohnung ein Stadtzentrumsverbot für mich, ich hatte ... bei Freunden übernachtet. ..." Am 12. Juni legt Bernd Oehler Beschwerde ein, gegen das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen ihn vom 2. und 4. Juni und fordert eine Erklärung dafür vom Leiter der Bezirksbehörde der Volkspolizei in Leipzig. Am 5. Juni besucht der Landesbischof Dr. Johannes Hempel demonstrativ das Friedensgebet. Die Kirche wird diesmal nicht von Sicherheitskräften abgesperrt. Der Sprecher des Arbeitskreises Gerechtigkeit Bernd Oehler schreibt im Namen von Studenten des Theologischen Seminares Leipzig wegen der Niederschlagung der Demokratiebewegung in China einen Brief an Landesbischof Dr. Johannes Hempel und bittet ihn darum, „ sich dafür einzusetzen, daß der Ökumenische Rat der Kirchenein vernehmliches und sinnvolles Wort als Reaktion äußert". Am 6. Juni verfassen Adolf Endler, Gabi Kachold, Dr. Ina Gille, Bernd Igel und weitere Künstler im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Straßenmusikfestival eine Willenserklärung: „... Die Maßnahmen zur Verhinderung dieser für alle Bürger erfreulichen Aktivitäten sind uns unverständlich. Es kann nicht sein, daß Menschen, die durch ihre Musik anderen Freude bereiten wollen und die Atmosphäre einer Stadt zu verbessern suchen, durch Polizei- und Sicherheitskräfte an ihrer Arbeit gehindert werden. Wir fordern deshalb die Einstellung der Repressionen gegen Straßenmusiker und Theaterleute im Zusammenhang des Straßenmusikfestes am 10. Juni und erwarten in Zukunft im Interesse der Bürger unseres Landes von den verantwortlichen Stellen eine Unterstützung auch solcher eigenständiger Aktivitäten, die zur Belebung unserer Städte beitragen." Per Rundbrief versucht Andreas Ludwig vom Arbeitskreis Gerechtigkeit am 9. Juni wegen der Vorgänge im Zusammenhang mit der Kommunalwahl die Einberufung des Bezirkssynodalausschusses zu erreichen. Am 10. Juni diskutieren in der Lukaskirchgemeinde der Arbeitskreis Gerechtigkeit und die Arbeitsgruppe Menschenrechte mit dem Mitglied der SPD-Grundwertekommission Prof. Dr. Günter Brakeimann. In dem Gespräch versuchen die beiden Bürgerrechts gruppen zu erläutern, daß die direkte und indirekte Wirtschaftshilfe der Bundesregierung an die Ostberliner Führung eingestellt werden muß, weil mit Wirtschaftshilfe das Herrschaftssystem nur stabilisiert und eine grundlegende Änderung der Politik hinausgezögert wird. Mit dem Ziel, daß die Grundwertekommission der SPD beim Bundesvorstand auf deutlichere Stellungnahmen gegenüber der Nichtgewährung und Verletzung grundlegender Menschenrechte in Ostdeutschland hinwirkt, wird die Menschenrechtssituation in der DDR dargestellt. Die SED liefert ein tagesaktuelles Beispiel dazu: _ Sicherheitskräfte lösen in der Leipziger Innenstadt das Straßenmusikfestival mit über 1000 Besuchern auf. 84 Personen werden zugeführt, 28 von ihnen erhalten Ordnungsstrafen. Volker Dom aus Eilenburg erhält 1 Monat und 2 Wochen Freiheitsentzug per Strafbefehl. Über ihr Infotelephon in der Lukaskirchgemeinde informieren der Arbeitskreis Gerechtigkeit und die Arbeitsgruppe Menschenrechte die in Ostberlin akkreditierten Journalisten über die Behinderung des Straßenmusikfestivals und die Zuführungen. Später lassen Sie auf dem statt-Kirchentag zur Begleichung der Ordnungsstrafen des Straßenmusik festivals und des Pleiße-Pilger-Weges Geld sammeln. Unter Beteiligung des Friedens- und Umweltkreises Wurzen, des Arbeitskreises Gerechtigkeit Leipzig, der Arbeitsgruppe Friedensdienst Leipzig und überörtlicher Anti-Atomkraftgruppen organisiert die Kirchgemeinde Börln am 11. Juni einen Gottesdienst und Informationstag zum geplanten Bau eines 4. Atomkraftwerkes in Ostdeutschland. 800 Personen der umhegenden Orte beteiligen sich an der Veranstaltung. Die Pläne des Arbeitskreises Gerechtigkeit gemeinsam mit den Besuchern spontan eine Demonstration zu organisieren, scheitern wegen des enormen Aufgebotes von Sicherheitskräften. Rainer Müller berichtet darüber: „... Bereits im Vorfeld wurde der zuständige Superintendent von Wurzen gebeten diese Veranstaltung doch wieder abzusetzen. Man „einigte " sich schließlich darauf, nur den geplanten „Spaziergang" von der Kirche zu den beiden Börlner Ortsteilen Radegast und Schwarzer Kater, die dem Atomkraftwerksbau weichen sollen, ausfallen zu lassen ... Einigen Bürgern wurde durch die Deutsche Volkspolizei verboten, am 11. Juni '89 nach Börln zu fahren; der Vorsitzende der LPG Tierproduktion Börln gar drohte seinen Bauern mit dem Staatsanwalt, wenn sie sich am Sonntag in der Kirche blicken lassen würden. Bei der Anreise am 11. Juni wurde dann für jeden sichtbar, was den Ort in Zukunft erwartet: Sämtliche Zufahrtsstraßen und -wege nach und in Börln wurden durch massives Polizei- und Staatssicherheitsaufgebot kontrolliert, einzelne Teilnehmer von auswärts wieder nach Hause geschickt. Unerwartet viele Menschen, besonders aus den umliegenden Dörfern der Dahlener Heide, kamen in die Börlner Dorfkirche, die selbst bei Nieselregen nicht allen 800 Besucherinnen und Besuchern ein schützendes Dach bieten konnte. Mehrere Pfarrer berichteten über Eingaben-Gespräche zum geplanten AKW-Bau mit staatlichen Vertretern von Kreis-, Bezirks- und Ministeriumsebene. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Umwelt-, Friedens- und Menschenrechtsgruppen aus Altenburg, Leipzig, Dresden, Quedlinburg und Stendal informierten über die tödlichen Gefahren der Atomkraftnutzung ... Trotz kleiner Zwischenfälle vor und während des abschließenden Gottesdienstes zum Symbol des Regenbogens (vier Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden ohne ersichtlichen Grund von der Polizei kurzzeitig „zugeführt" als sie das Kirchengelände verließen) konnte dieser Tag für die betroffenen Menschen der Dahlener Heide ein Zeichen der Hoffnung und der Solidarität mit ihnen und dem im Gottesdienst vorgetragenen Anliegen sein: >Kein Atomkraftwerk im Bezirk Leipzig oder anderswo!<". Nach dem Friedensgebet am 12. Juni kommt es erneut zu einem Demonstrationsversuch. 27 Personen werden vorläufig festgenommen. 9 Personen erhalten Strafbefehle und 15 Ordnungsstrafen. Der Arbeitskreis Gerechtigkeit informiert telephonisch in Ostberlin akkreditierte westliche Journalisten von den Übergriffen. In der von Johannes Fischer, Frank Richter, Thomas Rudolph, Kathrin Walther und Christoph Wonneberger verfaßten Mitteilung der Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR an internationale Menschenrechtsorganisationen und an westliche Diplomaten heißt es: „Nach der Demonstration von zumeist Ausreisewilligen im Anschluß an das montägliche Friedensgebet vom 12. Juni zvurden die 25 vorläufig Festgenommenen mit Ordnungsstrafen bis zu 500,- Mark der DDR belegt. Weitere Personen wurden per Strafbefehl (dabei handelt es sich um eine Art gerichtliches Schnellverfahren, bei dem zwar ein Staatsanwalt, aber kein Rechtsanwalt zur Verteidigung anwesend ist) mit Geldstrafen zwischen 3000,- und 5000,- Mark belegt. 'Die Verurteilungen erfolgten nach § 217 des StGB. ... Alle am 12. Juni per Strafbefehl Verurteilten, wurden nach der Einzahlung der Geldstrafe übereilt in die Bundesrepublik Deutschland entlassen ." Am 15. Juni veröffentlichen Oppositionelle einen Offenen Brief zur Aufarbeitung des Stalinismus in Ostdeutschland. Unterzeichner sind unter anderem Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Initiative Frieden und Menschenrechte Berlin, des Arbeitskreises Gerechtigkeit, der Arbeitsgruppe Menschenrechte, der Initiativgruppe Leben Leipzig, des Arbeitskreises Solidarische Kirche Leipzig und des Friedensarbeitskreises Naumburg: „Vor fünfzig Jahren, d.h. von 1936 bis 1938, fand in der Sowjetunion eine Serie von Schauprozessen statt, in der ehemalige Kämpfer gegen den Zarismus und führende Bolschewiki als Landesverräter und Konterrevolutionäre verurteilt worden sind. Sämtliche Angeklagten wurden erschossen oder starben kurz darauf in Lagern für politische Gefangene. Sie waren nur ein Bruchteil der Opfer, die unter dem Terror Stalins und seiner Helfershelfer litten und starben. In der Sowjetunion sind Stalins Verbrechen und die Auswirkungen seiner Politik auf die ihm folgende Zeit mittlerweile kein Tabuthema mehr. Die Schauprozesse wurden wieder aufgerollt und die Mehrzahl ihrer Opfer, u.a. Bucharin, Sinowjew, Kamenjew, Radek, wurden rehabilitiert. Die Archive wurden geöffnet und Dokumente, die die Verbrechen zu dieser Zeit belegen, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In den Massenmedien wurden jahrzehntelang existierende Lügen zerstört und Wahrheit über Opfer und Täter, über Methode und System des Stalinismus benannt. Ein Denkmal für die Opfer des statistischen Terrors ist geplant. Und was geschieht in der DDR? Auch für unser Land hat die Politik Stalins Auswirkungen gehabt, wurden doch die Mitglieder der SED in seinem Sinne orientiert und geschult (Der kurze Lehrgang der Geschichte der KPdSU, ein Buch, das die stalinistischen Verbrechen verherrlicht, war Pflichtlektüre für jeden Genossen.), waren die meisten Führungskräfte von Partei und Staat, wie z.B. Walter Ulbricht, unkritische und treue Vertreter statistischer Politik. Die Thematisierung und Aufarbeitung dieser Problematik hat es offiziell in der DDR bisher noch nicht gegeben, obwohl die Auswirkungen bis heute nicht überwunden sind. Deshalb erwarten wir für die nächste Zeit: a) Die jüngst in der Sowjetunion erschienenen Veröffentlichungen zu den geschichtlichen Tatsachen und Hintergründen der Politik Stalins werden auch der DDR-Bevölkerung zugänglich gemacht. In den Massenmedien werden die Verbrechen und der Terror Stalins und seiner Komplizen thematisiert. Auch in Bezug auf den Schulunterricht und das Hoch- und Fachschulstudium werden diesbezügliche Änderungen erfolgen. Die erfolgten Rehabilitierungen werden in der DDR-Presse bekanntgegeben und erläutert. Der sowjetische Film „Die Reue" wird auch in unseren Kinos ausgestrahlt. Die Bevölkerung wird über das Schicksal von deutschen Antifaschisten aufgeklärt, die im sowjetischen Exil Leid erfahren habenwie. z.B. H. Vogelex W. Hirsch, W. Koska. b) Eine offene und öffentliche Aufarbeitung der Auswirkungen stalinistischer Politik auf die DDR muß erfolgen. Dazu bedarf es der Benennung der Tatsachen und Verbrechen aus der Regierungszeit Walter Ulbrichts ebenso, wie der Möglichkeit einer ungehinderten gesellschaftlichen Diskussion. In der DDR gab es Geheimprozesse, wie gegen Lex Ende, Kreikemeyer u.a. Diese Personen müssen rehabilitiert werden, die Öffentlichkeit über die damaligen Vorgänge informiert und aufgeklärt werden. Ebenso sollten Personen rehabilitiert werden, die kritisch der stalinistischen Politik entgegentraten und von einem ideologischen Bannspruch getroffen wurden wie Wolfgang Leonhard, Emst Bloch, Robert Havemann u.a. Dies schließt eine Veröffentlichung ihrer Werke in der DDR ein. Die Aufarbeitung des Stalinismus und seiner Auswirkungen auf die DDR ist bitter notwendig, nicht nur aus Gründen geschichtlicher Redlichkeit und aus Achtung der Würde ihrer Opfer. Die Verdrängung dieser Wirklichkeit hat negative Folgen für die Chancen demokratischer Entwicklungen in unserem Land. Noch befindet sich die DDR in dem Zustand, der heute in der UdSSR als Stagnation bezeichnet wird. Außerdem: Wer seine Geschichte nicht kennt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen. Unterzeichner. Ines Ackermann, Jörg-Uwe Ackermann, Michael Arnold, Michael Böhme, Lutz Breckenfelder, Andre Botz, Martin Böttger, Bärbel Bohley, Hans Brüdel, Claudia Buhlmann, Matthias Dietrich, Christian Dietrich, Emst Demele, Kathrin Drohberg, Christoph Emst, Torsten Falk, Johannes Fischer, Werner Fischer, Matthias Guüek, Peter Grimm, Markus Meckert, Thomas Hofmann, Raik Heckl, Dorothea Kunz, Andreas Kunz, Michael Kleim, Ines Kleim, Fred Kowasch, Jochen Läßig, Matthias Meyer, Klaus Günther, Mahler, Peter Müller, Gabriele Neumann, Andreas Neumann, Bernd Oehler, Gesine Oltmanns, Sänke Peterson, Matthias Purrucker, Doreen Penno, Andrea Richter, Frank Richter, Edelbert Richter, Thomas Rudolph, Katrin Schulz, Ulrich Stockmann, Uwe Schwabe, Enrico Schmidt, Thomas Sädel, Anja Treichel, Wolfram Tschiche, Bettina Walter, Kathrin Walther, Stefan Will, Dietmar Wiegand, Benedict Zwanzig, Manfred Zutno " Die Veröffentlichung erfolgte im Samisdat der Initiative Frieden und Menschenrechte Berlin, dem „Grenzfall , und einige Tage später in der Westberliner „tageszeitung". Jürgen Fuchs, Ralph Giordano, Wolfgang Leonhard, Erich Loest und Gerhard Zwerenz begrüßten den Offenen Brief in einer in der Westberliner „tageszeitung" vom 22. Juni 1989 abgedruckten Öffentlichen Erklärung. In ihr heißt es: „...Vor dem Hintergrund unserer eigenen Lebenserfahrungen erklären wir deshalb: Die Zeit des Kalten Krieges und der aggressiven Ein- und Ausgrenzung des Einzelnen muß jetzt zu Ende sein, auch in der DDR. Auf der Tagesordnung steht: sich ehrlich aufzuführen, kontrovers zu diskutieren, diejenigen namentlich aufzuführen, die für die Zeit des Terrors und der Stagnation verantwortlich waren, und Schritte einzuleiten, die zu einer pluralistischen, gewaltfreien Gesellschaft führen - in Ost und West...." (Hg.) Archiv der Initiative Frieden und Menschenrechte Sachsen e.V. Anschrift: 04177 Leipzig, Jahnallee 69. Spendenkonto: 35 02 100 Bank für Sozialwirtschaft Leipzig (BLZ 860 205 00). 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